Der Bundesfinanzhof hatte aktuell über einen ungewöhnlichen Fall zu entscheiden.
Der 2. Senat des Finanzgericht Mecklenburg-Vorpommern hatte unter dem Vorsitz des Präsidenten des Finanzgerichts ein Urteil gesprochen1. Nun ist das zunächst einmal normal.
Das beklagte Finanzamt monierte im Rahmen seiner Nichtzulassungsbeschwerde hiergegen, dass ausgerechnet mit dem Gerichtspräsidenten ein Richter an der Entscheidung beteiligt gewesen sei, der nicht gesetzlicher Richter gewesen sei.
Dies deshalb, weil der Präsident des Finanzgerichts Mecklenburg-Vorpommern zugleich Präsident des Oberverwaltungsgerichts Mecklenburg-Vorpommern gewesen sei. Nach dem Geschäftsverteilungsplan des Oberverwaltungsgerichts für das Jahr 2017 sei er dort Vorsitzender in vier Senaten gewesen. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs müsse der Präsident eines Gerichts in der Lage sein, in dem von ihm neben der Leitung des Gerichts geführten Spruchkörper mindestens 75 % der Aufgaben des Vorsitzenden und dabei mindestens 50 % der richterlichen Spruchtätigkeit selbst wahrzunehmen. Der Bundesgerichtshof habe dies zum Präsidenten eines Oberlandesgerichts entschieden. Vorliegend sei die abstrakte Belastung mit präsidialen Aufgaben bei typisierender Betrachtung höher. Zwar sei der Zuständigkeitsbereich des vom Präsidenten geführten Finanzgerichts-Senats kleiner als bei früheren Präsidenten. Gleichwohl sei schwerlich nachvollziehbar, wie er bei der Leitung von zwei Obergerichten und fünf Senaten den Anforderungen der Rechtsprechung nachkommen könne. Aus seinen Tätigkeiten ergäben sich keine Synergien.
Der Bundesfinanzhof hat die Entscheidung des Finanzgerichts Mecklenburg-Vorpommern mit deutlichen Worten aufgehoben.
Nach Auffassung des Bundesfinanzhofs gilt folgendes:
Ist der Präsident eines Finanzgerichts zugleich Gerichtspräsident in einer anderen Gerichtsbarkeit, muss der Geschäftsverteilungsplan erkennen lassen, mit welchem Bruchteil seiner Arbeitskraft der Präsident seinem Senat im Finanzgericht zugewiesen ist, damit in seiner Person kein Besetzungsmangel i.S. von § 119 Nr. 1 FGO vorliegt.
Im Einzelnen:
Ein Urteil ist gemäß § 119 Nr. 1 FGO stets als auf der Verletzung von Bundesrecht beruhend anzusehen, wenn das erkennende Gericht nicht vorschriftsmäßig besetzt war.
Bei der Prüfung von § 119 Nr. 1 FGO ist die Rechtmäßigkeit des gemäß § 4 FGO i.V.m. §§ 21e ff. GVG aufzustellenden Geschäftsverteilungsplans – anders als seine Auslegung und Würdigung durch das erkennende Gericht – nicht nur auf Willkür, sondern nach der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs auf jeden Rechtsverstoß zu untersuchen2. Daher liegt ein Besetzungsmangel i.S. des § 119 Nr. 1 FGO bei einem Spruchkörper auch dann vor, wenn die Aufstellung des Geschäftsverteilungsplans gegen § 4 FGO i.V.m. §§ 21e bis g GVG verstößt3.
Dies gilt jedenfalls dann, wenn der Rechtsverstoß im Geschäftsverteilungsplan geeignet ist, die Sachlichkeit der Entscheidungsfindung in Frage zu stellen. Denn der absolute Revisionsgrund des § 119 Nr. 1 FGO (vgl. auch § 547 Nr. 1 ZPO und § 138 Nr. 1 VwGO) dient insbesondere dazu, das Vertrauen der Rechtsuchenden und der Öffentlichkeit in die Sachlichkeit der Gerichte zu sichern4.
Stehen Richter nur mit einem Teil ihrer Arbeitskraft einem Spruchkörper zur Verfügung, muss der Geschäftsverteilungsplan erkennen lassen, mit welchem Bruchteil seiner Arbeitskraft der Richter dem jeweiligen Spruchköper zugewiesen ist, so der Bundesfinanzhof. Nimmt z.B. ein Hochschullehrer auch richterliche Aufgaben wahr, so muss bereits im Geschäftsverteilungsplan berücksichtigt werden, dass und inwieweit er durch seine Tätigkeit als Hochschullehrer verhindert ist, die richterlichen Aufgaben zu erfüllen5. Dies gilt auch für Richter, denen ein Richteramt an einem anderen Gericht auf der Grundlage von § 27 Abs. 2 DRiG übertragen ist6. Es ist dann der Tätigkeitsumfang für die richterlichen Aufgaben unter Bestimmung des Anteils der Arbeitskraft im Geschäftsverteilungsplan kenntlich zu machen7.
Lässt der Geschäftsverteilungsplan nicht erkennen, mit welchem Bruchteil seiner Arbeitskraft der Richter dem jeweiligen Spruchköper zugewiesen ist, führt dies beim Präsidenten eines Finanzgerichts, der zugleich Präsident eines Gerichts einer anderen Gerichtsbarkeit ist, nach Auffassung des Bundesfinanzhofs zu einem Besetzungsmangel i.S. von § 119 Nr. 1 FGO.
Dem Vertrauen in die Sachlichkeit der Gerichte kommt im Rahmen einer Fachgerichtsbarkeit wie der in rechtsprechungsfunktionaler Eigenständigkeit durch Art. 95 Abs. 1 GG abgesicherten Finanzgerichtsbarkeit (§ 1 FGO)8 gesteigerte Bedeutung zu. Denn mit der Einrichtung einer besonderen Fachgerichtsbarkeit verbindet sich die Erwartung einer Rechtsschutzgewährung durch für die Rechtsmaterien der Fachgerichtsbarkeit besonders qualifizierte Richter. Diese „Qualität des finanzgerichtlichen Rechtsschutzes“9 wird institutionell durch den Einsatz von Richterinnen und Richtern an den Finanzgerichten gewährleistet, die nach dem Bundesrecht nur an ihrem jeweiligen Finanzgericht als „einem bestimmten Gericht“ i.S. von § 27 Abs. 1 DRiG, nicht aber zugleich auch an anderen Gerichten tätig sind.
Bestätigt wird dies durch § 27 Abs. 2 DRiG. Denn die danach grundsätzlich mögliche Übertragung eines weiteren Richteramts bei einem anderen Gericht, „soweit ein Gesetz dies zuläßt“, ist in der FGO nicht vorgesehen. Die §§ 1 ff. FGO enthalten weder eine § 59 Abs. 2 GVG ähnliche Anordnung, wonach den Richtern eines Landgerichts gleichzeitig ein weiteres Richteramt bei einem Amtsgericht übertragen werden kann, noch Regelungen wie in § 16 VwGO. Danach können bei dem OVG und bei dem Verwaltungsgericht auf Lebenszeit ernannte Richter anderer Gerichte und ordentliche Professoren des Rechts für eine bestimmte Zeit von mindestens zwei Jahren, längstens jedoch für die Dauer ihres Hauptamts, zu Richtern im Nebenamt ernannt werden (ebenso § 11 Abs. 4 des SGG).
Die an die richterliche Tätigkeit zu stellenden Anforderungen treffen auch den Präsidenten eines Finanzgerichts – so der Bundesfinanzhof in seiner Entscheidung.
Der Präsident des Finanzgerichts hat den Vorsitz in einem der Senate seines Finanzgerichts zu übernehmen. Nach § 5 Abs. 1 FGO bestehen die Finanzgerichte aus dem Präsidenten, den Vorsitzenden Richtern und weiteren Richtern in erforderlicher Anzahl, wobei von der Ernennung eines Vorsitzenden Richters abgesehen werden kann, wenn bei einem Gericht nur ein Senat besteht. Letzteres ermöglicht die Errichtung eines Finanzgerichts mit nur einem Senat10, dem dann der Präsident vorsitzt.
Dementsprechend ordnet § 4 FGO i.V.m. § 21e Abs. 1 Satz 3 GVG an, dass der Präsident bestimmt, welche richterlichen Aufgaben er wahrnimmt. Ihm steht dabei nur die Wahl offen, in welchem von mehreren Senaten er den Vorsitz übernimmt. Den Umfang seiner Tätigkeit als Vorsitzender kann der Präsident nicht selbst bestimmen11.
Der gesetzlichen Verpflichtung des Präsidenten, den Vorsitz in einem Senat seines Finanzgerichts zu übernehmen, liegt das Leitbild des Richterpräsidenten zugrunde, dem nicht nur die Aufgaben der Dienstaufsicht und Gerichtsverwaltung (§ 31 FGO) obliegen und der sich daher nicht auf die bloße Rolle einer um Effizienz bemühten Führungskraft beschränken darf12, sondern der – wie alle anderen Senatsvorsitzenden – den erforderlichen richtungsweisenden Einfluss auf die Rechtsprechung seines Senats ausüben muss13. Dies gilt im gesteigerten Maße für den Senatsvorsitzenden einer Fachgerichtsbarkeit (vgl. § 1 FGO) im Hinblick auf die besonderen Anforderungen, die hier an die fachliche Qualifikation zu stellen sind.
Die in der Person eines Finanzgerichts-Präsidenten vorliegende Häufung von Ämtern in zwei Gerichtsbarkeiten, die keine Überschneidungen in ihren spruchrichterlichen Zuständigkeitsbereichen aufweist, ist geeignet, das Vertrauen in die Sachlichkeit der Entscheidungsfindung der finanzgerichtlichen Fachgerichtsbarkeit zu beeinträchtigen. Denn eine Doppelpräsidentschaft bei einem Finanzgericht und einem weiteren Gericht führt nach Auffassung des Bundesfinanzhofs dazu, dass dem Präsidenten die Dienstaufsicht und Gerichtsleitung bei zwei Gerichten sowie der Senatsvorsitz in mindestens zwei Senaten – jeweils einem Senat bei dem jeweiligen Gericht – obliegt. Folge dieses Tätigkeitsumfangs ist, dass der Doppelpräsident rechtsprechende Aufgaben in seinem Senat im Finanzgericht nur noch sehr eingeschränkt wahrnehmen kann. Denn der Doppelpräsident kann zwangsläufig nicht allen Aufgaben im Rahmen der – auch für ihn begrenzten – Arbeitskraft nachkommen14.
Einem damit einhergehenden Verlust in das Vertrauen in die Sachlichkeit der Entscheidungsfindung kann nur dadurch vorgebeugt werden, dass der Geschäftsverteilungsplan erkennen lässt, mit welchem Bruchteil seiner Arbeitskraft der Doppelpräsident seinem Senat am Finanzgericht zugewiesen ist, so dass dann auch überprüft werden kann, ob der Präsident spruchrichterlichen Tätigkeiten im erforderlichen Umfang nachkommt, um die fachgerichtlichen Anforderungen zu erfüllen. Dabei ist davon auszugehen, dass die Zuweisung eines Präsidenten zur Senatsarbeit im Finanzgericht mit weniger als 50 % seiner gesamten Arbeitskraft im Hinblick auf eine von ihm angenommene Präsidentschaft bei einem Gericht einer anderen Gerichtsbarkeit mit dem Leitbild des Richterpräsidenten eines Finanzgerichts nicht vereinbar ist.
Der Bundesfinanzhof hat vorsorglich darauf hingewiesen, dass die vorstehenden Bedenken gegen die Sachlichkeit der Entscheidungsfindung nicht durchgreifen, wenn Richter eines Finanzgerichts Aufgaben der Justizverwaltung an ihrem eigenen Gericht – sei es als Präsident oder in anderer Funktion (§ 21e Abs. 6 GVG) – wahrnehmen. Gleiches gilt für einen Doppelvorsitz in zwei Senaten eines Gerichts mit übereinstimmenden Zuständigkeitsbereichen, den die Rechtsprechung für Übergangszeiträume nicht beanstandet hat15.
Nicht zu entscheiden hatte der Bundesfinanzhof, was er ausdrücklich betont hat, unter welchen Voraussetzungen in anderen Fällen als der Ermöglichung einer Doppelpräsidentschaft der Vorsitz in einem Senat in Teilzeit aus z.B. familiären Gründen (vgl. hierzu § 1 Abs. 1 Nr. 3 BGleiG oder § 1 GlG) unter Wahrung zwingender dienstlicher Belange (§ 6 Abs. 1 Satz 4 BGleiG, § 7 Abs. 2 GlG) geführt werden könnte. Die Vorschriften über die Gleichstellung von Frauen und Männern dienen jedenfalls ersichtlich nicht dazu, eine Ämterhäufung in einer Person zu ermöglichen.
Zusammenfassung:
Damit liegt der vom Finanzamt geltend gemachte Besetzungsmangel i.S. von § 119 Nr. 1 FGO vor.
Im Streitfall wurde die angegriffene Entscheidung des Finanzgericht unter dem Vorsitz des Präsidenten des Finanzgerichts gefällt, der zugleich Präsident eines Oberverwaltungsgerichs ist und der nach den im Entscheidungszeitpunkt maßgeblichen Geschäftsverteilungsplänen des Finanzgerichts und des Oberverwaltungsgerichts den Vorsitz in insgesamt fünf Senaten führte.
Der im maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung für das Finanzgericht geltende Geschäftsverteilungsplan 2017 enthielt nicht den erforderlichen Vermerk zum Umfang der Arbeitskraft, die der Präsident der Senatsarbeit widmete. Bereits im Hinblick hierauf ist in Bezug auf seine Person die Sachlichkeit der Entscheidungsfindung nicht hinreichend gewährleistet, so dass das FG insoweit nicht ordnungsgemäß besetzt war. Damit ist nicht zu entscheiden, ob eine Doppelpräsidentschaft bei einem Finanzgericht und einem Gericht einer anderen Gerichtsbarkeit überhaupt mit der FGO vereinbar ist.
Bundesfinanzhof, Beschluss vom 14.03.2019 – V B 34/17
ECLI:DE:BFH:2019:B.140319.VB34.17.0
- FG Mecklenburg-Vorpommern, Urteil vom 19.01.2017 – 2 K 257/13 [↩]
- BFH, Beschluss vom 12.03.2014 – X B 126/13; Brandis, in Tipke/Kruse, Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, § 4 FGO Rz 26 [↩]
- BFH, Beschluss vom 10.12.2007 – VI B 88/07 [↩]
- Seer, in Tipke/Kruse, Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, § 119 FGO; Werth, in Gosch, FGO § 119 Rz 27 [↩]
- BGH, Beschluss vom 24.10.1973 – 2 StR 613/72 [↩]
- Kissel/Mayer, Gerichtsverfassungsgesetz, 9. Aufl. 2018, § 21e Rz 138 [↩]
- Sunder-Plassmann, in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 4 FGO Rz 84; Schwab/Weth, Arbeitsgerichtsgesetz, 5. Aufl. 2018, § 6a Rz 79; Zöller/ Lückemann, ZPO, 32. Aufl. 2018, § 21e GVG Rz 8 [↩]
- Jachmann-Michel, in Maunz/Dürig, GG, Art. 95 Rz 74 [↩]
- Sunder-Plassmann in HHSp, § 1 FGO Rz 24 [↩]
- Sunder-Plassmann, in HHSp, § 5 FGO Rz 24 [↩]
- Sunder-Plassmann, in HHSp, § 4 FGO Rz 79 [↩]
- Sunder-Plassmann, in HHSp, § 10 FGO Rz 7 [↩]
- BGH, Beschlüsse vom 19.06.1962 – GSZ 1/61, BGHZ 37, 210; vom 23.08.2016 – X ARZ 292/16 [↩]
- Roller/ Stadler, Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht 2015, 401, 403 [↩]
- BVerfG, Beschluss vom 23.05.2012 – 2 BvR 610/12 [↩]