Wie steht es um den Anspruch auf Kindergeld, wenn das volljährige Kind behindert ist, aber eine Schmerzensgeldrente erhält?
Der Bundesfinanzhof hat nun entschieden, dass eine Schmerzensgeldrente grundsätzlich nicht zu berücksichtigen ist und hat damit eine Entscheidung des Finanzgerichts Nürnberg1 bestätigt.
In dem entschiedenen Fall ist die Klägerin Mutter des im Jahr 1960 geborenen Sohnes V. Der unbefristet gültige Schwerbehindertenausweis vom April 2013 weist V einen Grad der Behinderung von 100 sowie die Merkzeichen ″G″, ″B″ und ″H″ zu. V wohnt seit dem 01.12.2007 in einem eigenen Haushalt in einem Rehabilitationszentrum.
V erhält seit April 2013 nach Abzug eines Pflegeversicherungsbeitrags von 1,35 EUR einen monatlichen Lohn in Höhe von 170,65 EUR. Weiter erhält er aufgrund eines Haftpflichtschadens aus dem Jahr 1977 monatlich eine Ersatzleistung für fiktiven Verdienstausfall in Höhe von 772,32 EUR und eine Schmerzensgeldrente in Höhe von 204,52 EUR.
Die beklagte Familienkasse hob mit Bescheid vom 28.08.2013 gegenüber der Klägerin die Kindergeldfestsetzung für V ab tober 2013 auf, weil V aufgrund der eigenen verfügbaren Mittel in der Lage sei, seinen Lebensunterhalt selbst zu bestreiten. Den hiergegen eingelegten Einspruch wies die Familienkasse als unbegründet zurück.
Das Finanzgericht Nürnberg gab der dagegen erhobenen Klage statt1. Zur Begründung führte es im Wesentlichen aus, V sei aufgrund seiner Behinderung außerstande gewesen, sich selbst zu unterhalten. Die ihm zur Verfügung stehenden Mittel seien in allen Monaten des Klagezeitraums niedriger als der Bedarf. Die Schmerzensgeldrente in Höhe von 204,52 EUR gehöre nicht zu den anzusetzenden finanziellen Mitteln.
Die Revision der Familienkasse hatte keinen Erfolg.
Gemäß § 62 Abs. 1, § 63 Abs. 1 Sätze 1 und 2 i.V.m. § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG besteht für ein Kind, das das 18. Lebensjahr vollendet hat, ein Anspruch auf Kindergeld, wenn es wegen körperlicher, geistiger oder seelischer Behinderung außerstande ist, sich selbst zu unterhalten, sofern die Behinderung – wie im Streitfall – vor Vollendung des 25. Lebensjahres eingetreten ist.
Das Tatbestandsmerkmal „außerstande ist, sich selbst zu unterhalten“ ist im Gesetz nicht näher umschrieben. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs ist ein behindertes Kind dann außerstande, sich selbst zu unterhalten, wenn es seinen Lebensunterhalt nicht bestreiten kann2. Ist das Kind hingegen trotz seiner Behinderung in der Lage, selbst für seinen Lebensunterhalt zu sorgen, kommt der Behinderung keine Bedeutung zu. Die Fähigkeit des Kindes zum Selbstunterhalt ist anhand eines Vergleichs zweier Bezugsgrößen zu prüfen, nämlich des gesamten existenziellen Lebensbedarfs des Kindes einerseits und seiner finanziellen Mittel andererseits3.
Der gesamte Lebensbedarf eines behinderten Kindes setzt sich aus dem Grundbedarf und dem individuellen behinderungsbedingten Mehrbedarf zusammen4.
Der Grundbedarf eines behinderten Kindes kann sich nach Wegfall des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG in der bis zum 31.12.2011 gültigen Fassung (EStG a.F.) ab dem Jahr 2012 zwar nicht mehr an dem für die eigenen Einkünfte und Bezüge des Kindes maßgeblichen Jahresgrenzbetrag orientieren. Da bei dem behinderten Kind aber – auch weiterhin – ein am Existenzminimum orientierter Betrag als allgemeiner Unterhaltsbedarf anerkannt werden muss5, ist zur Bemessung des Grundbedarfs an den Grundfreibetrag im Sinne des § 32a Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 EStG anzuknüpfen6. Davon gehen im Ergebnis auch das Schrifttum und die Verwaltung aus7.
Der behinderungsbedingte Mehrbedarf umfasst Aufwendungen, die gesunde Kinder nicht haben. Werden die behinderungsbedingten Mehraufwendungen nicht im Einzelnen nachgewiesen, kann der maßgebliche Behinderten-Pauschbetrag nach § 33b Abs. 1 bis 3 EStG als Anhalt für den Mehrbedarf dienen8.
Nach der Ermittlung des gesamten Lebensbedarfs des behinderten Kindes ist weiter zu prüfen, ob das Kind über hinreichende finanzielle Mittel verfügt, die zur Bestreitung seines persönlichen Unterhalts ausreichen. Ergibt sich eine ausreichende Leistungsfähigkeit des Kindes, kann davon ausgegangen werden, dass den Eltern kein zusätzlicher Aufwand erwächst, der ihre steuerliche Leistungsfähigkeit mindert. Dann ist es auch gerechtfertigt, für behinderte Kinder kein Kindergeld oder keinen Kinderfreibetrag zu gewähren9.
Zu den finanziellen Mitteln des behinderten volljährigen Kindes gehören seine Einkünfte und Bezüge. Mangels sachlicher Änderung von § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG gilt dies auch nach Wegfall des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG a.F.
Eine Schmerzensgeldrente ist bei der Ermittlung der dem Kind zur Verfügung stehenden Mittel nicht zu berücksichtigen, da sie nicht zur Bestreitung des Lebensunterhalts des Kindes bestimmt oder geeignet ist, so der Bundesfinanzhof.
Soweit die Familienkasse meint, bei der Prüfung der Leistungsfähigkeit eines behinderten Kindes komme es generell auf die Herkunft der zur Verfügung stehenden eigenen finanziellen Mittel und ihre Zweckbestimmung nicht an, kann der Bundesfinanzhof dem nicht beitreten. Nur solche Einkünfte und Bezüge eines behinderten Kindes sind bei der Beurteilung seiner Leistungsfähigkeit zu berücksichtigen, die zur Bestreitung seines Lebensunterhalts bestimmt oder geeignet sind10. Hieran hält der Bundesfinanzhof in seiner Entscheidung fest. Denn allein durch den Wegfall des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG a.F. hat sich der § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG zugrunde liegende Rechtsgedanke der Anerkennung eines am Existenzminimum des behinderten Kindes orientierten Betrags unter Berücksichtigung des behinderungsbedingten Mehrbedarfs nicht geändert.
Etwas anderes folgt auch nicht aus dem Urteil des Bundesfinanzhofs vom 09.02.201211. Dort ging es um die Frage, ob Eingliederungshilfen gemäß §§ 53 f. des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch (SGB XII) zu den dem behinderten Kind zur Verfügung stehenden eigenen finanziellen Mitteln gehören. Nur „in diesem Zusammenhang“ hatte der Senat ausgeführt, dass es auf Herkunft und Zweckbestimmung der Mittel nicht ankomme.
Das Schmerzensgeld nimmt – unabhängig davon, ob es in einem Einmalbetrag oder in Rentenform gezahlt wird – eine Sonderstellung innerhalb der sonstigen Einkommens- und Vermögensarten ein12. Dementsprechend ist grundsätzlich Schmerzensgeld bei der Beurteilung der finanziellen
Leistungsfähigkeit des behinderten Kindes nicht zu berücksichtigen.
Denn nach der Grundsatzentscheidung des Großen Senats für Zivilsachen des Bundesgerichtshofs vom 06.07.195513 hat das Schmerzensgeld rechtlich eine doppelte Funktion. Es soll dem Geschädigten einen angemessenen Ausgleich für solche Schäden und Lebenshemmungen bieten, die nicht vermögensrechtlicher Art sind. Es soll aber zugleich dem Gedanken Rechnung tragen, dass der Schädiger dem Geschädigten für das, was er ihm angetan hat, Genugtuung schuldet. Dabei steht der Entschädigungs- oder Ausgleichsgedanke im Vordergrund. Der Zweck des Anspruchs ist der Ausgleich für die erlittene Beeinträchtigung. Der Bundesgerichtshof hat den zugrunde liegenden Gedanken dahin formuliert, dass der Schädiger, der dem Geschädigten über den Vermögensschaden hinaus das Leben schwer gemacht hat, nun durch seine Leistung dazu helfen soll, es ihm im Rahmen des Möglichen wieder leichter zu machen13. Schmerzensgeld bei der Beurteilung der Leistungsfähigkeit eines behinderten Kindes zu berücksichtigen, stünde mithin in Widerspruch zu seiner Sonderfunktion, immaterielle Schäden abzumildern. Entsprechendes gilt für die Ausgleichsfunktion des Schmerzensgeldes. Denn es hat auch insoweit gerade nicht die Funktion, zur materiellen Existenzsicherung beizutragen14.
Der Sonderstellung des Schmerzensgeldes wird auch in anderen Bereichen Rechnung getragen. So ist im Sozialrecht die Schmerzensgeldrente nicht bei der Berechnung der Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach § 11a Abs. 2 des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch und auch nicht im Rahmen der Sozialhilfe nach § 83 Abs. 2 SGB XII als Einkommen zu berücksichtigen. Nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) ist eine Entschädigung nach § 253 BGB ebenfalls nicht als Einkommen bei der Bestimmung des Leistungsumfangs der Kriegsopferfürsorge anzurechnen (§ 25d Abs. 4 Satz 2 BVG).
Ein abweichendes Ergebnis ergibt sich auch nicht aus einer Berücksichtigungsfähigkeit des Schmerzensgeldanspruchs i.R. des § 1602 BGB15. Denn diese zivilrechtliche Unterhaltsregelung kann für die Auslegung des § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG nach der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs in den Entscheidungen vom 19.08.200216 und vom 14.10.200217 nicht herangezogen werden.
In Anwendung der vorstehenden Grundsätze hat das Finanzgericht Nürnberg in revisionsrechtlich nicht zu beanstandender Weise in der Vorentscheidung angenommen, dass V im eitzeitraum nicht über ausreichende Mittel verfügte, um seinen gesamten existentiellen Lebensbedarf zu decken.
Bundesfinanzhof, Urteil vom 13.04.2016 – III R 28/15
- FG Nürnberg, Urteil vom 10.12.2014 – 3 K 361/14 [↩] [↩]
- BFH, Urteile vom 19.11.2008 – III R 105/07; vom 11.04.2013 – III R 35/11; vom 05.02.2015 – III R 31/13; vom 15.10.1999 – VI R 183/97; vom 24.08. 2004 – VIII R 83/02 [↩]
- BFH, Urteile vom 08.08.2013 – III R 30/12; vom 20.03,2013 – XI R 51/10 [↩]
- BFH, Urteil vom 14.12.2004 – VIII R 59/02 [↩]
- BFH, Urteil vom 15.10.1999 – VI R 182/98 [↩]
- BVerfG, Beschluss vom 27.07.2010 – 2 BvR 2122/09 [↩]
- Grönke-Reimann in Herrmann/Heuer/Raupach, § 32 EStG Rz 118; Seiler in Kirchhof, EStG, 15. Aufl., § 32 Rz 21; Pust in Littmann/Bitz/ Pust, Das Einkommensteuerrecht, Kommentar, § 32 Rz 482; Schmidt/Loschelder, EStG, 35. Aufl., § 32 Rz 40; Blümich/ Selder, § 32 EStG Rz 114, 116 [↩]
- BFH, Urteil vom 22.10.2009 – III R 50/07 [↩]
- BFH, Urteil vom 04.11.2003 – VIII R 43/02 [↩]
- BFH, Urteil vom 19.08.2002 – VIII R 17/02 [↩]
- BFH, Urteil vom 09.02.2012 – III R 53/10 [↩]
- BVerfG, Beschluss vom 11.07.2006 – 1 BvR 293/05 [↩]
- BGH, Beschluss vom 06.07.1955 – GSZ 1/55 [↩] [↩]
- BVerfG, Beschluss vom 11.07.2006 – 1 BvR 293/05 [↩]
- für Anrechnung von Schmerzensgeld etwa Bamberger/Roth/Reinken, BGB, 3. Aufl., § 1602 Rz 31d; ebenso Erman/Hammermann, BGB, 14. Aufl., § 1602 Rz 68d; gegen Anrechnung von Schmerzensgeld dagegen Mutschler in BGB-RGRK, 12. Aufl., § 1602 Rz 8 [↩]
- BFH, Urteil vom 19.08.2002 – VIII R 51/01 [↩]
- BFH, Urteil vom 14.10.2002 – VIII R 55/01 [↩]